Ausgangssituation

An 3 Standorten eines weltweit agierenden Unternehmens mit über 20.000 Mitarbeitern befinden sich Werkzeug- und Formenbau-Abteilungen. In den Werkzeugbau-Abteilungen arbeiten 160 Mitarbeiter. Die 3 weltweit verteilten Standorte fertigen Werkzeuge für ihre Zielmärkte um Zoll- und Transportkosten sowie Transportrisiken zu vermeiden. Besonders in China sind Facharbeiter nicht verfügbar und müssen deshalb eigens ausgebildet werden. Kurz nach der Ausbildung verlassen diese das Unternehmen jedoch aufgrund besserer Angebote. Für diesen unrentablen Kreislauf gibt es keine Lösung. Der Import von Werkzeugen nach China ist aufgrund staatlicher Beschränkungen gänzlich unrentabel. Von einem Werkzeugtyp werden weltweit sehr viele gleichartige Werkzeuge eingesetzt. Die Werkzeuge werden ausschließlich für den Eigenbedarf gefertigt und in über 160 Fertigungsstandorten eingesetzt. Die Abteilungen arbeiten im 1-Schicht-Betrieb, die Ausstattung sowie die Prozesse sind veraltet. Ursache ist einerseits, dass die Abteilungen seit Jahren als Cost-Center arbeiten und damit aufgrund fehlender Erträge keine Investitionen mehr tätigen konnten. Auf der anderen Seite haben die bisherigen Abteilungsverantwortlichen in den letzten Jahren keine Innovationsbereitschaft gezeigt und den Werkzeug- und Formenbau nach wie vor als Handwerk betrachtet. Die internen Abteilungen müssen sich mit externem Wettbewerb messen, liegen bei der Angebotslegung jedoch seit Jahren abgeschlagen zurück. Der Eigenfertigungsquote liegt bei knapp über 20% und umfasst nur noch Technologien, die der Geheimhaltung unterliegen und deshalb nicht fremdvergeben werden. Normalien werden ebenfalls fremdbezogen. Die Werkzeug- und Formenbauabteilungen belastet das Betriebsergebnis seit vielen Jahren. Das Unternehmen überlegt die Abteilungen aufzulösen und das damit verbundene Know-How preiszugeben. Nachteil wäre allerdings der Verlust von Technologie-Wissen, das den Erfolg des Unternehmens begründet hat.

Sie sehen: die Situation ist verzwickt.

Fragestellung

Die Frage in der Geschäftsleitung ist, wie sich die Verluste in den Werkzeug- und Formenbauabteilungen zumindest neutralisieren lassen, so dass das für den Unternehmenserfolg wichtige Technologie-Know-How im Unternehmen gehalten werden kann.

Lösung

Die Lösung hat einer der Lieferanten des Unternehmens geliefert, der bereits seit Jahren gut mit dem Unternehmen zusammenarbeitet. Der Lieferant

  • ist klein, aber mit hochmodernen Maschinen und Prozessen ausgestattet
  • bietet seit Jahren bei marktgerechten Preisen höchste Qualität und hat dabei ein respektables Eigenkapital aufgebaut
  • ist im Markt als Juwel und Technologieführer bekannt
  • hat seit Jahren das Ziel, die Entwicklung und Fertigung von Werkzeugen maximal zu automatisieren.

Das Unternehmen einigt sich mit dem Lieferant auf eine Übernahme. Das Personal mit seinem Erfahrungsschatz und die Betriebsausstattung wird vom Unternehmen integriert. Die zwei Inhaber des Lieferanten werden an entscheidenden Positionen eingesetzt, erhalten ein großzügiges Budget und sind für den Turnaround verantwortlich. Für den Umbau wird 1 Jahr veranschlagt, in dem die interne Werkzeugfertigung am Hauptstandort ruht. Am Hauptstandort wird in einem Pilotprojekt das Gebäude komplett renoviert, die veraltete Ausstattung beseitigt und durch eine mannlose Fertigungszelle mit Fertigungsleitstand ersetzt. Die Fertigungszelle soll über alle für den Werkzeug- und Formenbau relevante Technologien verfügen. Auch die Entwicklung wird komplett auf das System und die Arbeitsweise des früheren Lieferanten umgestellt. In einem Folgeschritt wird der Pilot in Mexiko und China mit derselben Konfiguration ausgerollt. Die Entwicklung und Programmierung für den fortlaufenden Werkzeugbaubetrieb beschränken sich dabei auf den Hauptsitz, um Know-How zu sichern, Vorteile bei der Qualitätssicherung zu nutzen und Synergien beim der mehrfachen Verwendung von Arbeitsergebnissen zu nutzen. Die Fertigungszellen in Mexiko und China haben exakt dieselbe Konfiguration wie im Hauptwerk, so dass die zentral erstellte Fertigungsprogramme weltweit genutzt werden können und vor Ort nur noch wenig Fachwissen benötigt wird.

Umsetzung

Eines vorab: Das Ziel des Unternehmens galt bis dato als illusorisch und nicht umsetzbar. Der Werkzeug- und Formenbau galt aufgrund seiner hohen Toleranzansprüche und seiner Teilevielfalt seit jeher als handwerklich strukturierte Abteilung. Der projektverantwortliche Leiter

  • war jedoch extrem fokussiert und hat seine Ziele mit allen Mitteln verteidigt
  • hat leistungs- und veränderungsbereite Mitarbeiter gegen den Widerstand des Betriebsrats weit über Haustarif bezahlt, dafür aber veränderungsunwillige Mitarbeiter abgelehnt
  • hat Verantwortung abgegeben, die damit zusammenhängende Leistung aber vehement eingefordert
  • hat sich mit dem Rückhalt aus der Geschäftsleitung gegen starke interne Widerstände durchgesetzt
  • hat Hersteller von Standardsoftware dazu gebracht, Individuallösungen zu ergänzen, die jedoch der ganzen Branche Vorteile gebracht haben
  • hat Lieferanten dazu gebracht, jede kleine Abweichung vom Optimum zu korrigieren.

Die Zusammenarbeit mit ihm war wirklich nicht leicht, aber er hat sein Ziel erreicht. Und nach Zielerreichung, ja selbst nach der Erreichung von Zwischenzielen war für ihn die Welt wieder in Ordnung. Im Grunde wurde das Fertigungssystem des Lieferanten übernommen und mit weiteren Lösungsbausteinen vervollständigt. Weitere Ziele waren

  • die mannlose 24/7-Fertigung
  • Einsatz eines MES-Systems zur Ressourcen-, Prozess- und Fertigungsplanung
  • papierloses Arbeiten
  • weitere Prozessautomatisierungen im Entwicklungs- und Fertigungsbereich
  • Ersatz von HPC- durch HSC-Maschinen
  • Vereinheitlichung von Steuerungen
  • Reduktion der Schruppzeiten und des Werkzeugverschleißes durch den Einsatz moderner Trochoidal-Strategien
  • Simulation aller Bearbeitungsoperationen durch Maschinencode-Simulation

Vor und hinter der Fertigungszelle wurden 2 automatische Paletten-Hochregale mit Check-In- und Check-Out-Stationen zum Auf- und Abrüsten der Paletten installiert. Die mit RFID versehenen Paletten mit Nullpunkt-Spannsystem wurden an den Check-In-Stationen mit dem dazugehörigen Bearbeitungsauftrag verheiratet und den Rohteilen oder Halbzeugen gerüstet. Zwischen den Paletten-Hochregalen innerhalb der Fertigungszelle sind die Paletten die Stationen mannlos durchlaufen. Im Check-Out-Bahnhof wurden entweder Fertigteile oder Halbzeuge zur erneuten Bearbeitung in einer anderen Aufspannung abgerüstet.

Die Fertigungszelle umfasste unter anderem:

  • mehrere Stationen zur 3-5achsige Fräsbearbeitung
  • separate Maschinen für die Graphit- und Kupferbearbeitung
  • Maschinen für die Graphitnassbearbeitung mit Zentrifuge zum Reinigen der Flüssigkeit
  • separate Schrupp- und Schlichtmaschinen, alle HSC
  • alle Fräsmaschinen mit internen Messtastern für das Messen im Prozess und Werkzeugkontrolle
  • Tieflochbohrmaschinen
  • Honmaschine
  • Waschstationen
  • Messmaschinen
  • Diverse Paletten-Karussells für die Lagerung zwischen den Bearbeitungsstationen

Draht- und Senkerodiermaschinen wurden in separaten Fertigungszellen realisiert, weil es hierfür am Markt erprobte Standardlösungen gab. Die Polierbearbeitung wurde nach dem Abrüstvorgang teilweise in herkömmlichen Maschinen oder in Handarbeit belassen. Die Montage der Werkzeuge erfolgte nach wie vor per Handarbeit, jedoch mit mit Hilfe großer Touch-Screens anstatt von Papier-Dokumentationen. Die Dokumentation wurde im Entwicklungs- und Programmierverlauf automatisch erstellt.

Projektmethode

Bei diesem Projekt hatte ich meine erste Berührung mit agilem Projektmanagement. Hier wurde für mich die Form der Anforderungsermittlung mit einem für alle Projektbeteiligten gültigen Standard auf ein neues Niveau gehoben. Ich habe damals das erste Mal agile Standard-Zeremonien durchlebt und dabei erkannt, dass wir uns von Zwischenziel zu Zwischenziel fortbewegen. Und das war auch gut so, denn für das beschriebene Projektziel gab es zwar eine Vorstellung, aber bei keinem der Projektpartner einen bereits realisierten Lösungsweg. Das Projekt war stark experimentell. Ich habe in der Folge nie wieder so harte Retros und Reviews erlebt – wobei die Reviews mit fortschreitendem Projektverlauf hauptsächlich an den Fertigungsanlagen stattgefunden haben.

Herausforderung

Im Projektverlauf gab es viele Lösungsansätze, die wieder verworfen werden mussten. Lösungen schienen immer wieder durch die Angebote unterschiedlicher Projektpartner realisierbar zu sein, bei denen die anderen Beteiligten aber ihren Teil beitragen mussten. Bis spät im Projektverlauf mussten komplette Lösungen verworfen und neu aufgesetzt werden. Immer wieder stand das Projekt auf der Kippe – und immer wieder sind die Projektpartner über den eigenen Schatten gesprungen um Tabus zu brechen. Und manch notwendige Lösung hat nie richtig funktioniert. Der herausragendste Stolperstein war dabei die für ein gutes Waschergebnis eingeplanten Waschanlagen. Allen Beteiligten war klar, dass die Reinigung innerhalb der Maschinen für einen Qualitätsmessprozess nicht ausreicht. Leider hat das Ergebnis der Waschanlagen nie das vom Menschen praktizierte Niveau erreicht, so dass Qualitätsmessprozesse zu viele Fehler aufgrund von Ablagerungen auf den zu messenden Bauteilen aufgewiesen haben. Viele Nachbesserungen des Projektpartners haben leider nicht zum notwendigen Ergebnis geführt und die in Aussicht gestellte Lösung hat sich nicht erfüllt. Automatisierte Korrekturschleifen sind damit in der Endbearbeitung nie zum Einsatz gekommen.

Projektinformationen

Projektdauer: 1 Jahr (Hauptwerk)

Projektteam: 30 interne und externe Teammitglieder von 12 externen Projektpartnern

Projektbudget: ? viel …

Fazit

Die Lösung ist wie geplant nach einem Jahr in Betrieb gegangen. Die Fertigung lief nun im 24/7-Betrieb, nur von kurzen und geplanten Wartungsfenstern zum Reinigen und Rüsten der Maschinen unterbrochen. Größere Wartungsfenster gab es für koordinierte Maschinenwartungsmaßnahmen. Besonders für die letzten Schlichtbearbeitungen mussten die Paletten jedoch oft ab- und wieder aufgerüstet werden, so dass die Werkstücke vor dem Qualitätsmessprozess manuell gereinigt werden konnten. Die Waschanlagen wurden außer Betrieb genommen und der Bearbeitungsprozess entsprechend angepasst. Die Pilotanlage wurde in Mexiko und in China geklont. Das Mitarbeiterproblem in China wurde dadurch entschärft und die Werkzeugqualität in Mexiko wurde erhöht. Das Unternehmen fertigt jetzt auch Normalien, um die Fertigung optimal auszulasten. Das beste Fazit ist jedoch: die Werkzeug- und Formenbauabteilungen arbeiten trotz der hohen Investition wieder profitabel und könnte mit der neuen Wettbewerbsfähigkeit sogar externe Aufträge annehmen.

Von einst 100 Mitarbeitern am Hauptstandort wurden für Entwicklung und Fertigung nach erfolgreichem Anlauf nur noch 20 Mitarbeiter benötigt. Die Fertigungshalle war bei Projektende nur zu etwa 30% belegt und bietet deshalb ausreichend Wachstumspotential.

Mein Arbeitgeber

Softwarehersteller des CAD/CAM-Systems. Im Zuge des Projekts

  • wurde die Standard-Software mit Individuallösungen für das Unternehmen ergänzt
  • wurde bestehend Funktionalität verbessert, um das geforderte Qualitätsniveau zu erreichen
  • wurden PMI-Attribute nach Projektanforderung ergänzt
  • wurden Postprozessoren erstellt, geliefert, eingefahren und abgenommen.
Meine Rolle

Ich habe die Anforderungen ermittelt und bei der Lösungsentwicklung beratend mitgewirkt, war Bestandteil des Projektteams und in meinem Teillösungsbereich die Schnittstellen zwischen anderen Projektpartnern und unseren Fachspezialisten und Entwicklern. Aus Sicht meines Arbeitgebers war ich Account- und Projekt-Manager.