Ausgangssituation

Ein tschechischer Flugzeughersteller und Lieferant für Flugzeugkomponenten mit knapp 2.000 Mitarbeitern hat das Ziel in der Lieferkette vom Tier2- zum Tier1-Lieferant aufzusteigen und dadurch höhere Margen sowie eine zuverlässigere Auslastung zu erreichen. Die Einführung eines PLM-Systems ist neben der Übernahme von Risiken vom Kunden und Compliance-Vorgaben der Luftfahrtaufsichtsbehörden eine der Voraussetzungen. Neben der Lohnfertigung möchte das Unternehmen in Zukunft auch Entwicklungsleistungen für Flugzeugkomponenten übernehmen und damit eine größere Wertschöpfung als in der Vergangenheit erzielen.

Das Unternehmen möchte in Zukunft direkt mit 4 großen Flugzeugherstellern zusammenarbeiten und dabei unterschiedliche Modell-Linien bedienen. Die Modell-Linien haben beim Kunden in der Regel eigene PLM-Umgebungen unterschiedlicher PLM-Systemanbieter. Aus diesen PLM-Umgebungen heraus werden Informationen für Lieferanten zur Verfügung gestellt sowie regelmäßige Arbeitsergebnisse des Lieferanten zurück geliefert. Zudem sind bei der Zusammenarbeit mit den Kunden idealerweise auch Release- und Change-Workflows zu bedienen.

Das Unternehmen verfügt über eine Vielzahl monolithischer Anwendungen, die teilweise über Schnittstelle miteinander verbunden sind. Aufgrund der Schnittstellenabhängigkeiten und dadurch notwendige Anpassungsaufwendungen wurde die Mehrzahl der Anwendungen über viele Jahre nicht aktualisiert. Informationen liegen im Unternehmen redundant und mit unterschiedlichen Versionen vor. Wegen dieser Ursache kommt es immer wieder zu teuren und rufschädigenden Fertigungsfehlern, die teilweise erst während der Qualitätsprüfung bei Kunden auffallen.

Auf Basis der Zusammenführung von Produktinformationen durch die PLM-Einführung soll die papiergestützte Fertigungsdokumentation auf elektronische Arbeitsanleitungen umgestellt werden, weil die Lektüre der Dokumentation im Fertigungsprozess sowie die handschriftliche Dokumentation der Arbeitsschritte einen erheblichen Zeitaufwand verursachen und die elektronische Dokumentation leichter sowie zuverlässiger aktualisierbar ist. Zudem ist dieser Punkt erfolgsrelevant, weil Kunden elektronische Dokumentationen den papiergebundenen Dokumentationen vorziehen.

Im Unternehmen gibt es kein bis wenig Fachwissen über die umfassenden Compliance-Vorgaben der wichtigsten Luftfahrtaufsichtsbehörden FAA und EASA, die beim Design der unternehmensinternen Prozesse und der Implementierung der PLM-Umgebung zu beachten sind. Der COO des Unternehmens hat aufgrund seiner Erfahrungen bei einem großen Tier-1 Lieferanten eine klare Präferenz. Das Unternehmen befindet sich in Staatsbesitz. Die Übernahme durch einen großen Flugzeughersteller ist gerade erst gescheitert und die Verhandlungen mit einem anderen großen Tier1-Lieferant befindet sich in den Endgesprächen. Dieser potenzielle neue Eigentümer hat eine andere PLM-System Präferenz als der COO des Unternehmens.

Die Finanzlage des Unternehmens ist angespannt und das Budget entsprechend niedrig angesetzt. Das Unternehmen erhält staatliche Investitionszuschüsse nur für Personal mit inländischer Nationalität.

Fragestellung
  • Welches PLM-System erfüllt die individuellen Anforderungen des Unternehmens am besten und wie kann die Entscheidung transparent sowie überzeugend hergeleitet werden?
  • Wie können Prozesse zwischen Kunden und dem Unternehmen automatisiert werden?
  • Wie können unternehmensinterne Prozesse und deren Abbildung im PLM-System trotz fehlendem Fachwissen entsprechend der Compliance-Vorgaben festgelegt und umgesetzt werden?
  • Wie kann das bestehende CAD-System und seine Bestandsdaten in die neue PLM-Umgebung übernommen werden?
  • Wie kann der Wildwuchs unterschiedlichster Anwendungen und Schnittstellen reduziert oder aufgelöst werden?
  • Wie können Informationen aus einer Vielzahl von Ablageorten in die PLM-Umgebung migriert werden?
  • Wie kann die PLM-Kopplung zu unterschiedlichen PLM-Systemen und PLM-Umgebungen mit unterschiedlichen Datenmodellen der Kunden möglichst kostenschonend umgesetzt werden?
  • Wie kann die Fertigungsqualität und Liefertreue verbessert werden?
  • Wie können Arbeitsanleitungen effizient erstellt und nach Änderungen auftragsbasierend zuverlässig aktualisiert werden?
  • Wie können Arbeitsergebnisse bis auf Einzelteilebene effizienter dokumentiert und dadurch nachvollziehbar gemacht werden?
  • Und wie ist diese Lösung für einen relativ kleinen Marktteilnehmer mit sehr begrenztem Budget innerhalb kurzer Zeit realisierbar?
Lösung

Das Unternehmen hat sich nach einer Auswahlphase für ein PLM Beratungsunternehmen entschieden und sich nach der Anforderungsermittlung eine Umsetzungslösungen vorstellen lassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt war die transparente Aufbereitung des Entscheidungsprozesses als Basis für die Freigabe durch staatliche Behörden oder neuen Eigentümer.

Aufgrund des begrenzten Aerospace Compliance-Fachwissens im Unternehmen sowie des straffen Zeitplans sieht der Vorschlag die Nutzung einer vordefinierten PLM-Konfiguration für die Luftfahrtindustrie vor. Diese ist zwar nicht mehr ganz aktuell und zieht auch deutlich höhere Lizenzkosten nach sich, ist aber aufgrund der fehlenden Aerospace Compliance-Wissensgrundlage und ebenso fehlender externer Beratungs-Optionen alternativlos. Zudem können Differenzen zwischen der verfügbaren Compliance-Abdeckung und dem aktuellen Stand im System nachgepflegt werden. Der Implementierungsaufwand bleibt trotz dieser Nachpflege bei einem kleinen Bruchteil einer komplett manuellen Implementierung und erfüllt damit den Anspruch an ein sehr begrenztes Implementierungsbudget und die nur geringe Verfügbarkeit inländischer und damit subventionierungsfähiger Fachkräfte.

Informationen aus vorgeschlagenen Bestandsanwendungen werden über individuelle Attribute ins PLM-System übernommen. Nur wenige Bestandsanwendungen bleiben budgetbedingt vorerst bestehen. Die Übernahme des Großteils dieser Restinformationen sowie eine Anbindung an das ERP-System soll in einem Folgeschritt umgesetzt werden. Eine umfassende Anwendungsverbindung über ein Schnittstellennetz soll es in Zukunft nicht mehr geben und Anwendungen sollen dadurch aktuell gehalten sowie an die Unternehmensabläufe angepasst werden können.

Aufgrund der Budgetgrenze verzichtet das Unternehmen vorerst auf die PLM-System-Kopplung zu seinen Kunden und nutzt stattdessen die unterschiedlichen Web-Zugangsmöglichkeiten und Paketierungslösungen der Kunden. Das verursacht zwar einen höheren Prozessaufwand und erschwert die Zusammenarbeit mit der Entwicklung der Kunden und anderen eingebundenen Tier1-Lieferanten, ist aufgrund der Budget- und Zeit-Limitierung alternativlos.

Auf Basis der Engineering BOM und der daraus abgeleiteten logistisch aufbereiteten Manufacturing BOM mit zusätzlichen Fertigungsmitteln wir die Visualisierung für die digitale Arbeitsanleitung erzeugt. Die in der Luftfahrt vorgeschriebene Nachverfolgbarkeit von Einzelteilen, der Prozesse für deren Fertigung sowie die Prozesse zur Montage von Komponenten und Fertigteilen mitsamt Qualitätsparametern wird über die Verbindung der digitalen Arbeitsanleitung mit der Manufacturing BOM und daraus abgeleiteter Service BOM erreicht. In der Service BOM können die Produkte über den gesamten Lebenszyklus nachverfolgt und aktuell gehalten werden. Für das Unternehmen ist dieser Leistungsbestandteil wichtig, weil er Bestandteil der Beauftragung durch OEM-Kunden ist und zum abzuliefernden Leistungsumfang zählt. Durch die digitale Arbeitsanleitung auf Industrie-Tablets wird zudem der Zeitaufwand für die Lektüre und manuelle Eintragung reduziert. Mitarbeiter werden interaktiv von einem Arbeitsschritt zum nächsten begleitet. Qualitätsparameter werden entweder manuell eingetragen oder durch elektronische Drehmomentschrauber automatisch ins PLM-System übermittelt. Und Aktualisierungen werden auftragsbezogen zentral ausgerollt, so dass das Situationen vermieden werden, bei denen Mitarbeiter mit veralteter Dokumentation arbeiten.

Umsetzung

Im ersten Schritt nach der Beauftragung wurden die Anforderungen an eine Zukünftige Lösung am Standort des Unternehmens aufgenommen. Der COO des Unternehmens hat zusammen mit dem PLM Consultant seine Zielvision entwickelt. In der Beratungsdokumentation wurden 4 PLM-Lösungen anhand einer Entscheidungsmatrix mit kundenabgestimmter Gewichtung gegenübergestellt. Auf Basis dieser Grundlage hat der PLM Consultant zusammen mit einem Solution Architekt eine Lösung mitsamt Aufwandschätzung, Team-Zusammensetzung und Team-Organisation, System-Architektur und dafür notwendige Lizenzen entworfen.

Nach Abnahme der Beratungsleistung hat der PLM Consultant die Dokumentation so angepasst, dass sie als Ausschreibungsgrundlage dienen kann. Dazu gehörte die Definition von Arbeitspaketen und darin enthaltene Leistungen. Die Ausschreibungsdokumentation wurde um eine von den Anbietern zu nutzende Angebotsmatrix erweitert, so dass eingehende Angebote vergleichbar gemacht werden könnten.

Die weitere Begleitung als Vendor Manager wurde vom Unternehmen gestoppt, als die Übernahme durch einen Wettbewerber abgeschlossen war. Dieser neue Eigentümer hatte bereits eine bestehende PLM-Infrastruktur eines anderen Anbieters, die auf das Unternehmen ausgeweitet werden sollte. Der neue Eigentümer hatte das notwendige Aerospace Compliance-Wissen im Haus.

Projektmethode

Als reines Beratungsprojekt ohne Implementierung einer Lösung wurde keine gezielte Projektmethode verwendet.

Herausforderung

Die größte Herausforderung war die Einhaltung eines unangemessen kleinen Budgets für eine umfangreiche Leistung, die durch niedrige Initialkosten aber hohe Folgekosten gelöst wurde. Fehlendes Fachwissen über Aerospace Compliance zur Definition der Unternehmensprozesse und PLM-Implementierung wurde durch Nutzung einer vorkonfigurierten Branchenlösung ausgeglichen, an dessen Prozesse sich das Unternehmen gezielt anlehnen wollte. Eine weitere Herausforderung war das Ziel des COO, das im Gegensatz zum Ziel des absehbaren neuen Eigentümers stand und der Zeitdruck, der sich daraus ergeben hat.

Projektinformationen

Projektdauer: 3 Wochen

Projektteam: 1 PLM Consultant (Vollzeit) und 1 Solution Architekt (Teilzeit)

Projektbudget: 50.000 € Beratungsleistung, 500.000 € Implementierungsleitung + Lizenz- und Infrastrukturkosten

Fazit

Dieses Projekt war für mich ein typisches Beraterprojekt, das von einer Person des Unternehmens sehr zielgerichtet getrieben wurde, um die bereits bestehende Zielvorstellung gegenüber anderen Geschäftsleitungsmitgliedern und Anteilseignern durchzusetzen. Die Zusammenarbeit mit den Fachbereichen und dem COO war hervorragend. Letztendlich hat der Zeitfaktor durch die schnelle Einigung des Unternehmens mit dem neuen Eigentümer über den weiteren Weg entschieden.

Mein Arbeitgeber

Hersteller-unabhängiges PLM Beratungsunternehmen

Meine Rolle

Ich habe das Beratungsprojekt als PLM Consultant begleitet, die Anforderungsermittlung in den Fachbereichen und die Zielvision-Definition mit dem COO durchgeführt. Darüber hinaus habe ich aus dieser Grundlage die Entscheidungsmatrix sowie die Beratungsdokumentation erstellt und den Solution Architekt bei der Erstellung der Aufwandschätzung, Team-Zusammensetzung und der vorgeschlagenen Team-Organisation unterstützt. Ich habe aus der Beraterdokumentation Ausschreibungsdokumente inklusive Angebotsmatrix abgeleitet und zusammen mit dem Solution Architekt Arbeitspakete definiert.