Wir haben uns jetzt eine ganze Zeit lang mit den Grundlagen agilen Projektmanagements beschäftigt – und das war auch notwendig, damit uns die Zusammenhänge aller nachfolgenden Inhalte dieses Kurses klar werden. Jetzt aber steigen wir direkt ins Hauptthema ein und folgen dabei dem Lebenszyklus einer Anforderung vom Anfang bis zum Ende.
Unsere erste Frage ist deshalb: wie entstehen Anforderungen in einem Unternehmen überhaupt? Und in unserem speziellen Fall fragen wir ganz gezielt, wie Anforderungen in einem Großunternehmen entstehen, weil sich das Projektmanagement in Großunternehmen ganz erheblich vom Ablauf in kleineren Unternehmen oder gar einer One-Man-Show unterscheidet.
Und damit erleben viele Projektteam-Mitglieder auch die erste große Überraschung. Bitte beantworte Dir jetzt spontan die Frage: wo entstehen denn die Anforderungen in einem Großunternehmen? Du kannst das Video dazu auch gerne anhalten und Dir Gedanken dazu machen. Ich schlage Dir das sogar ganz ausdrücklich vor.
Viele würden jetzt sagen, dass Anforderungen natürlich bei den Mitarbeitern entstehen, die im Fall der Softwareentwicklung eine Software nutzen. Oder bei Mitarbeitern an einer Fertigungslinie, die dort die Maschinen bedienen oder Komponenten montieren. Das wären dann Anforderungen, die zur Optimierung von Arbeitsprozessen beitragen. Auf die Art: ich kipp da mal einen Verbesserungsvorschlag ein und der wird dann irgendwann realisiert, wenn Kapazität frei ist. Und das ist oft auch der Anspruch, den ein Mitarbeiter mit einem Verbesserungsvorschlag verbindet.
Tatsächlich aber entstehen Anforderungen in erster Linie von oben nach unten und reichen dabei sogar über die Geschäftsleitung hinaus. Anforderungen lassen sich in vielfältiger Weise untergliedern, z.B. in strategische, operative und regulatorische Anforderungen. Gesellschafter bzw. Aktionäre interessieren sich hauptsächlich für die Sicherung und Vermehrung ihres eingesetzten Kapitals. Die größten Anteilseigner eines Unternehmens werden üblicherweise im Aufsichtsrat repräsentiert und um weitere Aufsichtsratsmitglieder mit wertvoller Erfahrung und Kontaktenetzwerk ergänzt. In manchen Unternehmensformen ist natürlich auch die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat vertreten. Der Aufsichtsrat formuliert üblicherweise – aber nicht zwangsweise ausschließlich – strategische Anforderungen. Beispiele hierfür wären notwendige Reaktionen auf konjunkturelle Veränderungen, Reaktionen auf das Wettbewerbsumfeld, die Erweiterung oder Konzentration von Handlungsfeldern durch Akquisition oder Ausgliederung, technologische Entwicklungen, Allianzen und vieles mehr. Der Vorstand bzw. die Geschäftsleitung ergänzen die Anforderungen des Aufsichtsrats mit weiteren strategischen und operativen Anforderungen. Operative Anforderungen haben immer das Ziel, den Geschäftsverlauf im Sinne der Anteilseigner und Mitarbeiter zu optimieren und deshalb rechtzeitig auf Herausforderungen zu reagieren. Operative Anforderungen beinhalten dabei auch regulatorische Anforderungen, die vom Gesetzgeber aus den Ländern stammen, in denen das Unternehmen aktiv ist. Darüber hinaus gibt es noch absatzgetriebene Anforderungen für Zertifizierungen.
Der Vorstand sammelt die Anforderungen des Aufsichtsrats zuzüglich regulatorischer und operativer Anforderungen aus eigener Hand und ordnet diese Anforderungen Projekten zur Umsetzung zu. Und jedes Projekt wird mit einem Budget und einem Zeitrahmen versehen. Dabei kann eine einzige Anforderung ein Projekt rechtfertigen, oder aber mehrere Anforderungen werden in einem Projekt realisiert. Ein Projekt untergliedert sich dann in mehrere Programme, z.B. im Bereich Personal (insbesondere das Change Management im Personalbereich), dem Bereich Verwaltung (für eine notwendige Verwaltungsreorganisation), das Marketing, das Gebäudemanagement, die Fertigung (um zum Beispiel neue Anlagen oder Maschinen anzuschaffen), der IT oder eben für unseren Schwerpunktbereich der Softwareentwicklung. All diese Programme in Summe sollen die gegebenen Anforderungen im Projekt realisieren. Und die Programme greifen wiederum je nach Komplexität und Organisation des Unternehmens auf ein oder mehrere Teams zurück, um die immer granularer heruntergebrochenen Anforderungen in nutzbare Lösungen umzusetzen. Das ist jetzt einmal eine ganz grobe Beschreibung, wie Anforderungen in einem Großunternehmen entstehen und in Lösungen umgesetzt werden.
Die Umsetzung einer Anforderung durch den Verbesserungsvorschlag eines Mitarbeiters setzt also voraus, dass es ein laufendes Projekt und damit auch ein verfügbares Budget und freie Kapazität zur Implementierung gibt. Und damit ist auch klar, warum manche Verbesserungsvorschläge scheinbar im Nichts verschwinden.
Wir können aus dieser Lektion also folgendes Fazit ziehen: Anforderungen in einem Großunternehmen entstehen immer von oben nach unten. Und mit dieser Einsicht strukturieren wir diesen Kurs von der Entstehung einer Anforderung, über die Definition eines Projekts, der Bildung von Programmen und Gründung von Teams. Wir verfolgen den Arbeitsablauf vom Anfang bis zum Ende.
Jeder Unternehmensebene stehen dabei aus den vorab behandelten Grundlagen Zeremonien, Werkzeuge, Rollen und Prinzipien zur Umsetzung zur Verfügung. Doch dazu mehr in der folgenden Lektion. Eine kleine Anmerkung noch: ab diesem Abschnitt wirst Du nach ausgewählten Lektionen Praxisübungen vorfinden, bei denen ich Dir eine Situation schildere und Du darauf basierend mit den erlernten Projektwerkzeugen eine Lösung entwickeln kannst. Ich schlage Dir als Vorbereitung für die berufliche Praxis vor, diese Übungen „vor“ der jeweils nachfolgenden Lösungslektion wahrzunehmen.