Hi, herzlich willkommen in dieser Lektion, in der wir uns mit dem Thema Zertifizierung beschäftigen.
Welcher Inhalt wird in dieser Lektion behandelt?
Wir sprechen in den nächsten Minuten über:
- die Wertschöpfungstiefe eines Unternehmens,
- und die damit zusammenhängende Prozesskontrolle,
- wir betrachten gemeinsam Beispiele für Standard-, Methoden- und Kunden- bzw. Behördenzertifizierungen,
- wir gehen kurz auf das Thema FMEA ein,
- und sprechen letztendlich über die Ziele von Zertifizierungen.
Jetzt aber zum Inhalt dieser Lektion:
Warum sind Zertifizierungen sinnvoll?
In der letzten Lektion haben wir die Wichtigkeit von Zertifizierungen kennengelernt. Vordergründig sind die einfach nur notwendig, um in die nähere Lieferantenauswahl für interessante Aufträge zu kommen. Doch ist das wirklich nur ein schnödes Selektionskriterium? Was hat es damit tatsächlich auf sich? Damit befassen wir uns in dieser kurzen Lektion, die nicht zwingend etwas mit dem Projektmanagement zu tun hat. Aber der hier vermittelte Zusammenhang hilft uns beim Verständnis des „Warum“.
Ein OEM, ein Hersteller von Endprodukten, hat im seltensten Fall eine volle Fertigungstiefe von der Gewinnung von Rohstoffen bis zum Recycling der Endprodukte. Er hat im seltensten Fall ausschließlich weisungsgebundene festangestellte Mitarbeiter. Das mag auf das ein oder andere Unternehmen in Südkorea, China, Indien oder Russland zutreffen. Aber sie sind die absolute Ausnahme. Die Masse hat viele Lieferantenschnittstellen und viele externe Mitarbeiter und Dienstleister, die am Wertschöpfungsprozess eines Endprodukts beteiligt sind.
Ein Unternehmen, das seine Prozesse mit Six Sigma und Lean-Management unter Kontrolle hat und seine Qualität und Effizienz ständig verbessern und anpassen möchte, hat dabei nur Zugriff auf die unternehmensinternen Bestandteile der Wertschöpfungskette. Lieferanten, Dienstleister und externe Mitarbeiter sind nicht weisungsgebunden, sondern arbeiten auf vertraglicher Basis zusammen. Eine Möglichkeit, einen Lieferanten, einen Dienstleister oder einen externen Mitarbeiter neben vertraglicher Einzelvereinbarungen zur Einhaltung der unternehmensinternen Regeln zu verpflichten, ist die Zertifizierung des externen Vertragspartners.
Welcher Vorteil ergibt sich aus der Zertifizierung von Lieferanten?
Wenn es sich bei der Zertifizierung um einen allgemein anerkannten Standard wie z.B. DIN ISO 9001 handelt, dann ist das für den OEM mit keinem Aufwand verbunden und der Lieferant kann diese mit nur einmaligem Aufwand für eine Vielzahl von Kunden verwenden. Der Lieferant verpflichtet sich zu festgelegten Handlungsweisen und der Kunde kann sich sicher sein, dass seine entsprechenden internen Mindestvoraussetzungen damit eingehalten werden. Was aber viel interessanter ist, ist die Tatsache, dass der Kunde bei einem Fehler, der direkt auf die Nichteinhaltung der Zertifizierungsvoraussetzungen zurückzuführen ist, jegliche damit verbundene Belastungen auf den Lieferanten abwälzen kann. Der Lieferant hat im Fall der Nichteinhaltung seinen Vertrag mit dem Kunden gebrochen und nahezu keine rechtliche Möglichkeit, sich gegen die Regressforderung des Kunden zu wehren. Die Zertifizierung erfolgt durch anerkannte Zertifizierungsstellen wie z.B. dem TÜV.
Noch tiefgreifender sind Zertifizierungen wie z.B. Six Sigma Levels oder die für unseren Bereich davon abgeleitete SPICE Level. Diese Zertifizierungen legen nicht nur die grundsätzliche Unternehmensorganisation zur Vermeidung von Fehlern fest, sondern legen den Ablauf einzelner Prozesse fest, die bei der Erstellung der eingekauften Leistungen oder Produkte durchschritten werden. Sprich: jeder vom Kunden angeforderte Prozess wird einzeln zertifiziert und muss in der Folge auch eingehalten werden. Die Zertifizierung erfolgt auch hier durch anerkannte und unabhängige Zertifizierungsstellen.
Und ganz tiefgreifend sind die unternehmensspezifischen Zertifizierungen, bei denen der Kunde dem Lieferanten ganz genau vorgibt, was zu tun und zu überprüfen hat. Teilweise muss der Lieferant dann sogar die Prozess- und Produktprüfungsdokumentation für jedes Einzelteil an den Kunden abgeben. In diesem Fall büßt der Lieferant für die Enstehungsprozesse der Kundenleistung einen großen Teil seiner unternehmerischen Freiheit ein, er darf die Fertigungsprozesse ohne Neuzertifizierung weder anpassen noch optimieren. Im Bereich der Zulieferer in der Luftfahrtindustrie, dürfen noch nicht einmal Fräsprogramme optimiert, Fräswerkzeug-Typen durch neue bessere Typen ersetzt oder ein besserer neuer Fräsmaschinentyp angeschafft werden. Jede Kleinigkeit kann bei solch einer unternehmensspezifischen Zertifizierung festgeschrieben werden, weil der Kunde sich wiederum gegenüber einer Zulassungsbehörde wie z.B. der FAA oder EASA über eine Zertifizierung zur Einhaltung des Status Quo verpflichtet hat. Die Zertifizierung des Lieferanten erfolgt direkt durch den Kunden und die Zertifizierung der Endprodukte erfolgt durch Zulassungsbehörden. Zum Schutz von Leib und Leben der Nutzer sicherheitskritischer Produkte.
Was ist FMEA?
Und dann gibt es noch die Absicherung eines OEM vor Schadenersatzklagen durch Endkunden. Bei FMEA handelt es sich nicht mehr um eine klassische Zertifizierung, sondern um die konsequente Betrachtung von Risiken für die Herstellung und Nutzung des Endprodukts. Risiken werden bei FMEA aktiv gesucht, erkannte Risiken werden dokumentiert und im Entwicklungsprozess bestmöglich beseitigt. Für verbleibende Risiken wird der Kunde bestmöglich informiert und sowohl unternehmensintern, als auch gegenüber dem Kunden und anderen Stellen Vorgehensweisen im Schadensfall vordefiniert. Ziel dabei ist zu dokumentieren, dass Fahrlässigkeit, grobe Fahrlässigkeit oder sogar Mutwilligkeit und Absicht auszuschließen sind. Dieser sehr hohe und kostspielige Aufwand für FMEA wird von allen Unternehmen betrieben, die Produkte mit einem sehr hohen Schadenrisiko herstellen. Das betrifft vor allem die Hersteller von Flugzeugen, Autos, Zügen, großen Bauwerken, Medikamenten und ähnlichen Produkten, bei denen viele Menschen verletzt oder getötet werden können und auch großer materieller Schaden verursacht werden kann. Denn diese Entschädigungszahlungen sind die höchsten weltweit und können selbst die größten Unternehmen bei Nachweis der Fahrlässigkeit in ihrer Existenz bedrohen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Boeing, denen grobe Fahrlässigkeit durch die Nichteinhaltung von Zertifizierungsvorgaben vorgeworfen wird.
Im Schadenfall vor Gericht stellt der Hersteller dem Richter und den Strafermittlungsbehörden tausende Seiten von FMEA-Dokumenten zur Verfügung, die belegen sollen, dass der Hersteller wirklich jedes erdenkliche Risiko in Betracht gezogen, soweit möglich ausgeschlossen und über die Restrisiken bestmöglich informiert hat.
Welche Ziele haben Zertifizierungen?
Zertifizierungen haben also unter anderem zwei grundsätzliche und überwiegend finanziell motivierte Ziele:
- die qualitative Absicherung eigener Produkte und Leistungen bei der Zusammenarbeit mit Lieferanten, Dienstleistern und externen Mitarbeitern, und
- der Schutz vor existenzbedrohenden Schadenersatzforderungen von Geschädigten und deren Hinterbliebenen.
Die Zertifizierung verfolgt neben dem Schutz von Leben und finanzieller Haftung ganz klar die Verlagerung von eigenen Risiken und Verantwortung zum Lieferanten. Die von vielen Mitarbeitern in der Lieferantenkette verhöhnten Zertifizierungen haben also in der Tat einen tieferen Sinn.
So das war es jetzt aber zu den Projektmanagement- und Prozessmanagement-Grundlagen. Zumindest für den Teil, der für ein besseres Verständnis des folgenden Kursreiheninhalts notwendig ist.
Fassen wir nun zusammen, was wir in dieser Lektion behandelt haben:
- wir haben über die unterschiedlichen Wertschöpfungstiefen in Unternehmen und die damit zusammenhängende Prozesskontrolle gesprochen,
- wir haben uns die Eigenschaften, Vor- und Nachteile von Standard-, Methoden- und Kunden- bzw. Behördenzertifizierungen angeschaut,
- wir haben beleuchtet, was FMEA zur Risikominimierung beitragen kann und welche Vorteile FMEA einem Unternehmen bietet,
- und wir haben daraus resultierend die Ziele von Zertifizierungen erkannt.
In der übernächsten Lektion schauen wir uns gemeinsam die bisher besprochenen Methoden an und wählen die für uns relevanten Methoden für die Vertiefung in den Folgekursen aus. Doch zuvor gibt es für Dich noch einmal eine große Überraschung:
Die folgende Lektion beinhaltet den zweiten und damit auch letzten Praxis-Test dieses Kurses, in dem wir uns noch einmal mit den Lerninhalten aus den Lektionen seit dem ersten Praxis-Test beschäftigen. Du hast auch für diesen Praxis-Tests wieder mehr als ausreichend Zeit, so dass Du keinen Zeitdruck hast. Du kannst den Test beliebig oft wiederholen, bis Du das erforderliche Minimalziel von 80% erreicht hast. Genau diese intensive Beschäftigung mit dem Lerninhalt festigt Dein neu erworbenes Wissen. Ich wünsche Dir dabei viel Spaß, wir sehen uns in der übernächsten Lektion wieder!